Moers 1990
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19. New Jazz Festival Moers 1990
Multikulturelles Spektakel
An Pfingsten fand dieses Jahr, bereits zum 19. Mal, wieder das traditionelle New Jazz Festival Moers im größten Fest-Zelt Europas, das 20.000 Menschen fasst, statt. Es ist wohl überflüssig anzufügen, daß diese Großveranstaltung auf dem Gelände des Moerser Schloßpark am Rande dieser ‚kleinen Großstadt’ eh schon längst zu den kulturellen Höhepunkten Gesamtdeutschlands, wenn nicht sogar Europas überhaupt zählt.
Ein triftiger Grund für mich als Jazz-, Ethnomusikfan, sich einen langjährigen Traum zu erfüllen und sich dieses Spektakel vor Ort zu Gemüte zu führen. Zu meinem Leidwesen traten wir am ersten Tag erst verspätet ein, so dass ich auf No Safety, der Gruppe um die Akkordeonspielerin Zeena Parkins, sowie auf Sean Bergin’s Mob mit unter anderem Wolter Wierbos verzichten musste. Gerade von No Safety versprach ich mir einiges, nachdem ich die Aufnahme auf der Knitting Factory-CD Volume Three gehört hatte. Außerdem musste ich bei der Knitting Factory Tournee beim Zentrum Zoo in Tübingen feststellen, daß die Bassistin Ann Rupel (dort in der Gruppe Curlew mit Tom Cora) ihr Handwerk, einschließlich Slap-Bass, gut erlernt hatte.
Die Musiker um den indischen Geiger El Shankar, der schon mit Lou Reed, Peter Gabriel und den Talking Heads zusammenspielen durfte, konnte ich dann zur Hälfte mitverfolgen. Zur Enttäuschung vieler musste der berühmte Zakir Hussein wegen einer Krankheit durch einen anderen Tabla-Spieler ersetzt werden. Obwohl alle vier hochgradige Ragas darboten, vermisste ich den Gesang von Shankars Frau Caroline, die sich damit begnügen durfte das Tamboura zu drehen.
Da wir verzweifelt die Turnhalle zwecks Übernachtung suchten (eine kleine Rüge an die lückenhafte Ausschilderung und Öffentlichkeitsarbeit am Festivalstand), bekamen wir Roy Brooks & the Aboriginal Percussion Choir nur am Rande mit. Dazu kann ich nur sagen, daß ich unter den Musikern keine Aborigines, sondern nur schwarze amerikanische Musiker entdecken konnte.
Nachdem wir, gezwungen durch einen leeren Tank, in meinem R 5 nächtigten und frisch erholt am nächsten Morgen uns mit uns mit Proviant für die folgenden 3 Tage (3,- für Pils und Alt sowie 2,- für Cola-, Fantadosen waren uns als arme Studenten auf die Dauer zu viel) und einen Benzinkanister samt Inhalt besorgt hatten, stürzten wir uns ins Getümmel und ergatterten sogar 2 Sitzplätze, um die drei Finnen von der Gruppe Krakatau zu vernehmen. Die Franck Band im Anschluß daran entging uns wieder, da wir immer noch auf der Suche nach dieser dummen Turnhalle waren. Nach Erwerb eines Programmheftes konnten wir uns dann endlich in dieser für uns fremden Stadt orientieren (zwei Tage später entdeckten wir wie durch ein Wunder einen Stadtplan von Moers in der Innenstadt). Ich hätte auch diese Band gern erlebt, da ich immer für Sachen, die aus der Jazzhaus-Initiative im Kölner Stadtgarten-Restaurant kommen, zu haben bin.
Der darauffolgende Hal Russell, & his NRG Ensemble waren für mich, der ich alle Informationen über Harmolodic, Fake-Jazz, New Music, M-Base und John Zorn mit Leidenschaft verschlinge, einer der Höhepunkte von Moers. Ich würde diese Band aus Detroit, von der ich in meinem ganzen Leben noch nie gehört habe, getrost in einem Atemzug mit John Zorn, Ornette Coleman, Steve Coleman, Greg Osby und Tim Berne nennen. Tatsache war, dass sie wohl schwarze Elemente wie Harmolodic und Free-Jazz in ihre Musik miteinbezogen, zugegebenermaßen aber auch ein bisschen auf Show machten, als sie, anstatt Musik zu machen, Zeitungspapier zerrissen. Bemerkenswert auch, dass der zweifellos von klein auf begabte Hal Russell per Definition schon ein Tattergreis ist, aber meiner Meinung nach einen ähnlichen Esprit und Verve wie Ornette Coleman an den Tag legte, was schon allein daran zu erkennen war, dass er, und das nicht einmal schlecht, alle möglichen Instrumente spielte. Zu meiner Enttäuschung existierte weder am inoffiziellen Festival-Plattenstand noch beim inoffiziellen Schallplattenhändler auf dem Schloßpark eine Aufnahme dieser ‚genialen’ Band. Mein Appell an die Plattenproduzenten hierzulande, diese Band trotz aller Vorbehalte zu produzieren!
Nachdem sich sämtliche Avantgarde Norddeutschlands vor dem Festival-Eingang versammelt hatte, um sich ein paar Karten von den desinteressierten Jazz-Puristen zu ergattern und das Konzert der Einstürzenden Neubauten (mittlerweile Geschichte) zum zehnjährigen Jubiläum zu erleben, ging es dann auch müllinstrumentemäßig (der Geist von John Cage lässt grüßen) los. Blixa Bargeld war mal wieder der große Star, der sich sogar dazu hinreißen ließ, sage und schreibe ganze 75! Minuten zu spielen und sogar zu seinen Avantgarde-Jüngern zu sprechen. Originell war in meinen Augen der Einfall einer der Laute-Fabrizierer, einen Einkaufswagen, sozusagen als Realsatire an der Konsumgesellschaft, als Musikinstrument zu benutzen.
Nachdem sich der massive Andrang gelegt hatte, kam das Marcus Belgrave Septet auf die Bühne, das biederen Hardbop spielte und das beim Jazzfest Berlin wohl besser aufgehoben wäre. Selbst mein Freund, der bis zum Festival normalerweise nur Chris de Burgh anhörte, fand das Septett eindeutig zu lasch.
Dann kam die Bulgarian Wedding Band von Ivo Papasov und jeder dachte sich: na ja, die sehen ja ganz nett aus in ihrer Tracht, aber mit Jazz werden die wohl wenig am Hut haben. Jedoch das Gegenteil war der Fall: schon nach den ersten Takten steuerten diese Wahnsinns-Derwische auf den absoluten Festival-Höhepunkt zu. Mit einer irrwitzigen Spielweise und einem gnadenlosen Tempo (selbst Oscar Peterson hätte gestaunt) ging der Bulgarien-Express los in Richtung auf vier längere Zugaben und ein brodelndes Zelt, dessen Besucher zum Schluß allesamt auf dem Kopf bzw. auf den Stühlen standen.
Am dritten Tag machten wir nach unserer ersten Nacht in der endlich aufgefundenen Turnhalle am Aufbaugymnasium einen Abstecher nach Arnberg zum Kunstverein, um dort Werke des begnadeten Informel-Künstlers Emil Schumacher zu bewundern.
Die erste Band an diesem verregneten Pfingstsonntag, das Impossible Trio konnte durchaus überzeugen, war aber in seiner Spielweise teilweise noch nicht ganz ausgereift (ihr erster Auftritt außerhalb von Frankreich) und konnte sich auch nicht mit dem mittlerweile historisch gewordenen Auftritt von Sylvain Kassap vor zwei Jahren messen. Die Ken Cox Guerilla Jam Band war nicht unbedingt das, was ihr Name versprach, ebenso die darauffolgenden New + Used, trotz vielversprechender Namen wie Mark Feldman und Andy Laster aus New York. Sowohl bei New + Used wie auch den am Vortag spielenden Krakatau fehlte mir ein gewisses Maß an Spritzigkeit und Innovationsgeist. Was sie präsentierten, war zwar von der Idee her genial, jedoch klang die Realisierung des Konzepts (viel durchkomponierte Elemente) erzwungen und verkrampft.
Anschließend hatte das In Deutschland verkannte Genie Hans Reichel von Veranstalter Burkhard Hennen eine White-Card erhalten: der Wuppertaler Gitarren-Experimentator durfte ein Wunsch-Projekt verwirklichen. Mehrere Musiker aus der ganzen Welt mühten sich leidlich ab, konnten trotz tosendem Applaus nicht den Geist der absolut überzeugend spontanen Darbietungen in der Aula des Gymnasiums (an jeweils drei Vormittagen) beschwören. Überwältigend bei dieser buntgemischten Schar: der japanische Perkussionist mit seinem kompromisslosen Temperament – er weilte erstmals in Europa; der Schweizer Banjo!- und Gitarrenspieler Gysi (kein PDS-Mitglied, nehme ich an), als Country- und Bob Dylan-Satire einfach umwerfend und selbstredend das Rede-, Gesangs-, Mundperkussions- und Bewegungstalent Shelley Hirsch. Der Erfolg in der Aula sprach jedenfalls für das ganze Projekt selbst.
Als nächster Punkt stand das James Carter Trio, wiederum aus Detroit, auf dem Programm, mit Tani Tabbal am Schlagzeug. Namhaft Mister Carter rotzte nach Art einer Great Black Music derart los, dass ich fast versucht war, David Murray zu vergessen. Ihm fehlt zweifellos noch die technische Brillanz seines Kollegen am Tenorsaxophon, doch wird er neben Murray – so hoffe ich – seinen Platz einnehmen.
Für das was danach kam, die afrikanische Nacht, wurden erstmal alle Festivalbesucher aus dem Zelt gebeten, um die Stühle zu entfernen. Die erste Afro-Band um den Gitarristen Kante Manfila konnte mich persönlich nicht sehr begeistern, da ich zuviel europäisch-amerikanische Rockelemente in seiner Musik hörte, die dem afrikanischen Groove das Feuer nahmen. Doch dann kam der gnitze Hüne Peppe Kalle (2,15 m) & son Orchestre Empire Bakuba und wischte sämtliche Zweifel am sprühenden Feuer der afrikanischen Rhythmen beiseite. Er ist ja auch der große Star in Zaire, wo er Fußballstadien mit 80.000 bis 100.000 Zuschauern spielend füllt. Nach Sprecheinlagen und Handzeichen, die vom tanzenden Publikum nicht ganz verstanden wurden, war das Festivalzelt langsam am Kochen und Monsieur Kalle hatte leichtes Spiel. Beachtenswert auch der ein Meter große Zwerg, der als Kontrast zu Pepe Kalle herhalten durfte.
Der nächste ethnische Top-Act am vierten und letzten Tag am frühen Nachmittag waren Nusrat Fateh Ali Khan und Musiker, ebenfalls ein ganz großer Nationalstar in Pakistan, der durch seine immense Leibesfülle und hohe Stimme auffällt. Das rhythmische Geklatsche und der hochgradig virtuose Gesang kamen so gut an, dass – trotz Abbitte von Herrn Hennen wegen der langen Dauer der Ragas – eine Zugabe gespielt wurde.
Perfect Trouble, die neue Gruppe um die einfallsreiche Sibylle Pomorin konnte sowohl von der Idee her als auch von der Realisation vollkommen überzeugen. Bemerkenswert war wiederum Maggie Nichols, die ich schon anlässlich der Frauentage in der Esslinger Dieselstraße im Trio mit Irene Schweitzer und Joelle Leandre bewundern konnte. Und es war schon beim Soundcheck ohne Zweifel zu erkennen, dass jeder der Musiker sich das Alphabet des Jazz bis aufs Letzte einverleibt hatte.
Die beiden letzten Bands, Phil Haynes’ 4 Horns & What? mit den begnadeten Trompetern Paul Smoker und Herb Robertson sowie Andy Laster am Barriton- und Altsaxophon und das Quartett von Don Cherry, konnte ich nicht mehr erleben. Jedoch bot sich mir eine Woche später die Möglichkeit, beim 16. Tübinger Festival des Club Voltaire, Don Cherrys Gruppe zu hören. Der alte Gedanke ‚back to the roots’ wurde von ihm und seinen Mitmusikern in eine Collage aus afrikanischen Minimalismen, arabischen Skalen und indischen Metren mit Zuhilfenahme einer arabischen Rahmentrommel, einer afrikanischen Gitarre, Tablas, Congas, einer Djembe, einem Didjeridoo und balinesischen Schellen umgewandelt. Free Jazz-Pionier Don Cherry selbst war mit seiner Mini-Trompete sowie Melodika zu Gange und beteiligte sich auch an den abwechselnd afrikanischen, arabischen oder indischen Gesängen.
Was in Moers sicherlich noch sehr interessant gewesen wäre, war der Film ‚Step across the Border’ von den beiden Filmemachern Nicolas Humbert und Werner Penzel mit Musik von Fred Frith, John Zorn, Arto Lindsay und anderen. Dieser Film, der an drei Vormittagen in der Röhre sogar zweimal gezeigt werden musste, war so gut besucht, dass ich jedes Mal zu spät kam, um noch in den Kinoraum der Röhre eingelassen zu werden.
Anschließend bleibt noch zu betonen, daß Burkhard Hennen mit seinem Festival unbedingt mehr Beachtung und Unterstützung gebührt als bereits vorhanden. So hegt er große Projekte hinsichtlich des 20. Jubiläums im nächsten Jahr, benötigt zu der Realisierung aber über 1 Million DM. Zumindest hat er schon die Unterstützung des Moerser Stadtrats für die nächsten beiden Jahre, sowie vom WDR-Fernsehen (wo bleibt jedoch das Radio?) und den traditionellen Sponsoren.
PS: Ich grüße die zwei Jungs aus dem Sauerland, Frau von Kuenheim vom Kunstverein Arnsberg und die Grinsefrau mit den langen, dunklen Haaren, die bei Ivo Papasov ihre Augen verdreht und ebenfalls in der Turnhalle (mit drei Freundinnen) genächtigt hat; bitte melde dich, ich suche noch Musikerinnen für meine Avantgarde-Band in Stuttgart! Wer hat mein Knitting Factory T-Shirt in der Dusche der Turnhalle gefunden?
Etikett: Aufsatz, Festival, Jazz, Moers, Weltmusik